Frau May und der Sommer des Staunens - Ein Rückblick auf die ersten Wochen des „Zeitalter Brexit“

24.08.2016 14:01

Kerstin Dopatka

 

Vor 62 Tagen entschieden sich die Briten in einem geschichtsträchtigen Volksentscheid gegen ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Seitdem hat sich das Land in ein wunderliches Schauspiel voller Überraschungen und Knalleffekte verwandelt. Begriffe wie „Bregret“ [ungefähr zu übersetzen mit „britisches Bereuen“; zusammengesetzt aus BR(itain) und rEGRET (Bereuen)] oder Londependence (die Idee London zu einem unabhängigen Stadtstaat und Mitglied der Europäischen Union zu machen) machten seitdem von sich Reden. 4,143,507 Menschen (Stand 22.8.2016) haben in den vergangenen Wochen den Antrag auf ein zweites Referendum unterschrieben und das britische Parlament damit verpflichtet, diesen während der nächsten Monate zu diskutieren. Tausende von, meist jungen, Menschen demonstrierten tagelang vor Westminster und bekundeten mit Bannersprüchen wie „I love EU“ oder „I am not British, I am European“ ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Europäischen Union. Die nächste Großdemonstration ist für den 17.9. geplant.

 

Doch natürlich gibt es auch die lachende - die triumphierende Seite. Menschen, die wie Nigel Farage, den 23. Juni, den Tag des EU Referendums, zum britischen Unabhängigkeitstag erklären möchten. Menschen, die kaum darauf warten können, endlich wieder selbst über den Winkel ihrer Bananen zu entscheiden, die „Flüchtlingskrise“ in die eigenen Hände zu nehmen und die vielen, bilateralen Handelsverträge zu unterzeichnen, die sie in der nahen Zukunft für das Königreich erhoffen. Für viele war das Kreuzchen für den Austritt aus der EU aber auch ein Zeichen gegen das politische Establishment – gegen jene in Eton, Oxford und Cambridge herangezogenen „Jungs“, die Westminster seit Jahren in Beschlag nehmen und politische Posten untereinander aufteilen. Das jedoch viele der wichtigsten „Leave“-Befürworter dabei in genau diesem Establishment verwurzelt sind war den Protest-Wählern im Falle des Referendums scheinbar nicht aufgefallen.

 

Kopfschütteln, Verzweiflung, Siegesgefühle und Unsicherheiten

 

Frau May und der Sommer des Staunens – so könnte man jene vergangenen Wochen überschreiben, an die sich wahrscheinlich viele von uns noch in Jahrzehnten erinnern werden. Wochen voller Kopfschütteln, Ungläubigkeit, Verzweiflung, Siegesgefühlen und Unsicherheiten. Ein Schauspiel mit einer noch ungeklärten Anzahl von Akten, das ein neues Zeitalter eingeleitet hat: Das Zeitalter Brexit, das in Zukunft seine ganz eigene Generation junger Briten hervorbringen wird.

 

Seit 42 Tagen ist Theresa May Premierministerin des Vereinigten Königreichs. Während sich die Ereignisse in den ersten Wochen überschlugen, schreiten sie nun ein wenig langsamer voran. Langsamer und ein gutes Stück leiser. Das ist zum einen natürlich der Sommerpause des britischen Parlaments und den Führungsstreitigkeiten innerhalb der Labour Partei, zuzuschreiben, die in den letzten Wochen ihrerseits jede Menge Schlagzeilen in Anspruch nahmen, zum anderen aber befindet sich die Regierung nun in einer Phase, in der es darum geht sich erst einmal selbst zu finden; sich zu orientieren und zu überlegen auf welcher Route das Land sich am besten von Europa und vor allem dessen Union entfernen soll.

 

Im Gegensatz zu der scheinbaren Ruhe, die im Augenblick auf den britischen Inseln herrscht, waren die Wochen vor dem EU Referendum der Briten eine Zeit des Gebrülls. BREXIT-Befürworter schmissen ihre haltlosen Botschaften laut schreiend wie Erdnussschalen in einen Affenkäfig und freuten sich über alle, die die leeren Hüllen aufsammelten und selbst beim Kauen nicht merkten, dass die Nuss fehlte. Auf der anderen Seite des Käfigs standen die Verfechter der EU. Sie fletschten die Zähne und warnten mit Drohgebärden vor der Rache des Kontinents, sollten die Briten sich tatsächlich für einen Austritt aus der Union entscheiden. Und dann gab es da noch die Stillen; diejenigen, die das Treiben von der Seite beobachteten und sich kühlen Kopfes eine Strategie für beide möglichen Ausgangsszenarien des Referendums überlegten.

Rückzug einer kläffenden Meute

Eine von ihnen war Theresa May. Offiziell eine Befürworterin des Verbleibs in der EU zog sie dem Zähnefletschen ihrer Kampagnenkollegen jedoch eine dezente Zurückhaltung ohne viele Worte vor. Tatsächlich gelang es Frau May auf diese Art und Weise, aus dem Hintergrund ihre Fäden zu spinnen und sowohl von den Brüllaffen als auch von den kläffenden Hunden respektiert zu werden. Als die Wahl schließlich entschieden war, ging das Spiel in die nächste Runde und die bellende Meute der letzten Monate verabschiedete sich aus dem Geschehen: Zuerst David Cameron als Premierminister, der in seiner Rede am Morgen nach dem Referendum erklärte „I do not think it would be right for me to try to be the captain that steers our country to its next destination“; dann zog sich zur Überraschung aller, der häufig als nächster Premier gehandelte Oberbrüller Boris Johnson aus dem Rennen um den Chefsessel zurück: „Having consulted colleagues and in view of the circumstances in parliament, I have concluded that person cannot be me.“

Nigel Farage wollte plötzlich sein „Leben zurück“, nachdem er 17 Jahre lang für den Austritt aus der EU gekämpft hatte und verabschiedete sich auf der Höhe seines Erfolges vom Vorsitz der UKIP Partei. „I couldn’t possibly achieve more“, sagte er während seiner Abschiedsrede. Und er wusste wovon er sprach, denn plötzlich lagen die Erdnussschalen schwer im Magen vieler Brexit-Wähler. Das Britische Pfund stürzte über Nacht in den Keller und abstruse Wahlversprechen, wie 350 Mio. GBP, die im Falle eines EU Austritts wöchentlich für das Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt werden sollten, wurden bereits am Morgen des 24. Juni – d.h. wenige Stunden nach dem Referendum – von Farage zu einem „Fehler“ der „Leave“-Kamapgne erklärt. Aber hey - es gäbe immer noch verdammt viel Geld, das nun für Schulen, das Gesundheitssystem oder „whatever it is“ zur Verfügung stünde, so der ehemalige UKIP Führer, ehe er das Feld räumte und sich in sein Privatleben zurückzog.

 

Zwei Ministerinnen im Kampf um den Chefsessel

 

Während Menschen und Medien über den nächsten Regierungschef spekulierten, stellten sich die ersten Anwärter auf den Job des Parteivorsitzes der konservativen Partei und auf das Amt des Premierministers auf. Erst der damalige Arbeits- und Rentenminister Stephen Crabb, dann Lordkanzler und Justizminister Michael Gove, gefolgt von Innenministerin Theresa May, Andrea Leadsom (Ministerin für Energie und Klimawandel) und dem Politiker Liam Fox. Nachdem Crabb, Gove und Fox in den ersten beiden Wahlrunden ausgeschieden waren, ging es schließlich um eine Entscheidung zwischen den beiden Damen. Ehe es jedoch zur endgültigen Mitgliederabstimmung kommen konnte warf Leadsom ihren Hut und verabschiedete sich ebenfalls aus dem Rennen. Theresa May, last candidate standing, wurde daraufhin unerwartet schnell zur Parteivorsitzenden sowie am 13. Juli schließlich zur neuen Premierministerin des Vereinigten Königreiches gekürt. Einigen Umzugsfirmen verhalf sie damit zu erfreulichen Spontanjobs, denn noch am selben Tag sollte ein fliegender Bewohnerwechsel des berühmten Reihenhauses in der Downingstreet 10 stattfinden: Ein Auszug der Familie Cameron am Morgen und der Einzug von Mrs. and Mr. May am Nachmittag.

 

Boris Johnson wird Außenminister des Vereinigten Königreichs

 

Auch die nächste Überraschung wartete schon. Am Tag nach ihrem Amtsantritt ernannte Frau May Boris Johnson zum Außenminister und brachte die Welt damit zum Staunen. Boris Johnson wird britischer Aussenminister. Wie man auf gut Deutsch sagt: un - fucking - believable. Oder?”, postete Jakob Augstein auf Facebook. Und der frühere Premierminister Belgiens, Guy Verhofstadt, kommentierte “Clearly British humour has no boundaries...”. Bildzeitungsreporter Nikolaus Blome wiederum twitterte: “Es gibt doch noch Gerechtigkeit: Als Außenminister muss Boris #Johnson die Suppe (mit) auslöffeln, die er seinem Land eingebrockt hat...”.

 

Theresa May blieb in ihrer Kabinettsaufstellung stringent und besetzte alle außenpolitischen Posten – darunter natürlich auch den Chefsessel des neu eingerichteten Ministeriums für den Austritt aus der Europäischen Union – mit StellvertreterInnen der “Leave”-Kampagne – also waschechten Brexit Befürwortern. Während viele die Ernennungen Mays Anfangs als schlechten Scherz verstanden, äußerte sich eine wachsende Beobachterschar später zunehmend positiv über die Entscheidungen der Premierministerin und stimmte bald mit der Ansicht Nikolaus Blomes überein: Die Ernennung Boris Johnsons war ein strategisch kluger Schachzug und die Brexit Verantwortlichen sollten ihren Brexit nun auch selbst umsetzen, statt feige und von ihrem eigenen Erfolg überwältigt zurück zu treten und “ihr Leben” zurück zu fordern.

 

Brexit means Brexit

 

“Brexit means Brexit” – dieser Satz gehört inzwischen zu den wahrscheinlich berühmtesten Statements der neuen, britischen Premierministerin. Schon vor ihrer Wahl hatte sie damit ihre Position deutlich gemacht. Während Brexit-Gegnerinnen und Gegner hofften, ihr Schicksal mit einem zweiten Referendum – ja vielleicht sogar mit rechtlichen Schritten - vom Vereinigten Königreich abwenden zu können; während Schottlands erste Ministerin Nicola Sturgeon nach Brüssel reiste, um mit den Verantwortlichen vor Ort auszuloten, ob Schottland auch bei einem UK-Austritt aus der EU ein unabhängiges Mitglied der Union bleiben könne; während Protestkundgebungen vor Westminster auf und ab marschierten und ehemalige Freunde sich auf Facebook wegen unterschiedlicher Meinungen die Freundschaft kündigten – stand für Theresa May von Anfang fest, dass sich das Land unter ihrer Führung dem Volksentscheid beugen und die Europäische Union verlassen würde. Genau das hat sie mit der Ernennung ihrer Minister bewiesen.

 

Neben den vier international ausgerichteten Ministerien hat sie drei weitere Kabinettsposten mit Brexit-BefürworterInnen besetzt: Baroness Evans als Leiterin des Oberhauses, Chris Grayling als Transportminister und Andrea Leadsom als Umweltministerin. Insgesamt macht das 7 aus 27 der leitenden Positionen im britischen Kabinett. Mit der Aktivierung des berühmt berüchtigten Artikel 50 möchte sie sich jedoch noch Zeit lassen – das kündigte sie bereits bei ihrem Antrittsbesuch in Berlin an und traf damit scheinbar auf Verständnis bei Bundeskanzlerin Merkel.

 

73% aller britischen Abgeordneten gegen den Brexit

 

Bedenkt man, dass das Referendum nicht nur eine Schneise durch die Bevölkerung, sondern auch durch das britische Parlament geschlagen hat, ist das Vorgehen der Premierministerin gut zu verstehen. 73% aller britischen Abgeordneten des Unterhauses hatten sich für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Bei den Konservativen waren es insgesamt 56%, bei Labour über 60% und bei der SNP – der Schottischen Nationalpartei und gleichzeitig drittstärksten Partei im britischen Parlament - glorreiche 100%. Nur wenige Tage nach dem Referendum hatte Nicola Sturgeon bereits angekündigt, dass das schottische Parlament den Brexit verhindern könne. Auch auf anderen Seiten wurde diskutiert ob die Abgeordneten nicht einfach gegen einen Austritt stimmen sollten. Immerhin hatte das Referendum nur eine beratende Funktion und ist rechtlich nicht bindend. Gleichzeitig wird im Oberhaus, in dem insgesamt 785 Adelige und Kirchenvertreter sitzen, eine pro-europäische Stimmung vermutet und augenblicklich gefürchtet, dass diese ungewählten Parlamentarier ihrerseits versuchen werden, den Austritt aus der EU zu verhindern.

 

Ob das Parlament, sei es Oberhaus oder Unterhaus, aber tatsächlich die Aktivierung des Artikel 50 stoppen könnte, ist im Augenblick noch ungeklärt und wird von einer Vielzahl Sachverständiger und Juristen untersucht. Die Frage ist: Kann die Premierministerin den Artikel 50 eigenständig aktivieren oder braucht sie hierfür einen Parlamentsbeschluss? Da weder die EU Verträge noch die britische Verfassung hierauf eine Antwort geben, streiten nun Rechtsgelehrte über die Sachlage. Weitere Beratungen und Entscheidungen sollen im Herbst getroffen werden, wenn alle Abgeordneten aus der Sommerpause zurück sind.

 

Brexit – quo vadis?

 

Vor kurzem gab es einen ersten Konflikt zwischen Außenminister Johnson und Liam Fox, dem Minister für internationalen Handel. Es war ein Machtgerangel um Zuständigkeitsbereiche - Streitigkeiten, die es in ähnlicher Form bestimmt noch häufiger geben wird, ehe sich die neuen Strukturen gefestigt haben und die jugendlichen Hörner abgestoßen sind. Was aber konkrete Pläne und erste Schritte auf dem Weg in die “Unabhängigkeit” angeht zeigt sich Westminster noch verhalten. Wenig ist bisher geschehen. Ob dies an der Sommerpause liegt, an Unklarheiten im Machtgefüge oder an einer akuten Einfallslosigkeit dazu, wie man von hier aus weitergehen soll, ist noch nicht ganz klar. Doch der Sommer kommt langsam zu seinem Ende und am 5. September kehrt das Parlament aus seiner Sommerpause zurück. Nachdem die ersten Wochen nach dem Referendum von Staunen, Kopfschütteln und nahezu täglichen Überraschungen geprägt waren, sollte der Herbst zu deutlichen Klärungen in einer Vielzahl der offenen Brexit-Fragen führen.

Watch this space – es wir noch spannend werden!



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