Der "Winter of Discontent"

08.02.2019 09:26

Eine Geschichte von sozialem Aufruhr und wirtschaftlichem Chaos in der Vor-Thatcher-Ära

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Großbritannien im Ausnahmezustand: Müllberge im Herzen Londons, ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister und Massenstreiks im ganzen Land. Ein Szenarium, das aus heutiger Sicht – gut 1,5 Monate vor dem geplanten Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU - die nahe Zukunft des Landes beschreiben könnte.

Könnte.

Konjunktiv.

Tatsächlich handelt es sich bei dem oben beschriebenen Ausnahmezustand um einen Blick in die Vergangenheit - ein Blick auf einen eisigen Winter, der das Land vor genau 30 Jahren fast zum Stillstand brachte; ein Winter, der als „Winter of Discontent“ (Winter der Unzufriedenheit) in die Geschichte einging. Doch was war geschehen? 

Vorgeschichte: Die frühen 1970er

Mitte der 1970er Jahre wurde die britische Wirtschaft durch eine Inflation von über 25% gelähmt - eine Inflation wie das Königreich sie zuvor nur zum Ende des 1. Weltkriegs erlebt hatte. Grund waren die steigenden Ölpreise, die sich in der ersten Hälfte des Jahrzehnts nahezu verdreifacht hatten. Gemeinsam mit den Ölpreisen stiegen auch die Lebenshaltungskosten und die Menschen fürchteten um ihren Wohlstand, den sie sich während der Nachkriegszeit mühsam erarbeitet hatten. Eine scheinbar logische Reaktion war die Forderung der Arbeiter und Angestellten nach ebenso deutlichen Lohnsteigerungen. Mit allen Mitteln stritten und kämpften die britischen Gewerkschaften, die zu jener Zeit noch mitgliedsstark und einflussreich waren, für das Wohl ihrer Schützlinge und erzielten dabei regelmäßig gute Erfolge.

Bis das Blatt sich wendete.

Es war 1975, als die Labour Regierung unter Harold Wilson erkannte, dass die Spirale aus Lohnerhöhung und steigenden Lebenshaltungskosten angehalten werden musste. Also beschloss das Parlament eine Begrenzung sämtlicher Lohnerhöhungen auf maximal 5%. Ein Beschluss, der von dem Volk zwar mürrisch aber dennoch aufopferungsbereit aufgenommen wurde. 

Der Plan schien zu greifen. Innerhalb der nächsten drei Jahre schmälerten sich die Defizite in den öffentlichen Kassen und die Inflation war auf unter 10% gesunken.

Die späten 1970er: Aufschwung und Unmut

Während Politiker und Wirtschaftsunternehmen sich über die wirtschaftlichen Erfolge freuten, versprachen die Gewerkschaften eine baldige Anpassung der Gehälter und trösteten ihre Mitglieder über die – wie sie meinten letzte - Durststrecke hinweg. Dann aber kam der Schlag ins Gesicht des kleinen Mannes: 1978 – als die Wirtschaft langsam wieder blühte, kündigte Premierminister James Callaghan weitere Einschränkungen bei den Gehaltserhöhungen an und erneut wurden Lohnerhöhungen auf 5% begrenzt. Eine Entscheidung, die von den Arbeitern dieses Mal mit großer Wut aufgenommen wurde.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Im September 1978 begannen gut 80.000 Ford-Arbeiter den ersten Streik. 25% mehr Gehalt und eine 35 Stunden Woche, lauteten ihre Forderungen. Als sie tatsächlich eine Gehaltserhöhung von 17% erstritten hatten, folgten die LKW-Fahrer von Esso und BP dem Beispiel ihrer Kollegen aus der Automobilbranche – etwas später Angestellte des Öffentlichen Dienstes, Bestatter, Krankenhauspersonal, u.v.a.

Jahreswende 1978/1979: Ein Land im Notstand?

Inzwischen war ein arktischer Winter eingebrochen und Schneestürme mit Temperaturen von bis zu -17°C erfassten das Land. Während die Müllmänner in der Kälte ihre Streikposten bezogen, wuchsen die Müllberge in den Straßen gen Himmel. Krankenhäuser, Zugverkehr und die Elektrizitätsversorgung wurden zeitweise nur in eingeschränktem Umfang und mit einer Notbesatzung – u.a. durch Angestellte der britischen Armee - aufrechterhalten. Zur gleichen Zeit fand in der Karibik (Guadeloupe) ein Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter von Deutschland, Frankreich, den USA und dem Vereinigten Königreich statt. Statt sich auf die Inhalte der Gespräche zu konzentrieren, stellten Teile der britischen Presse die Zusammenkunft wie einen Sonnenurlaub dar und zeigte Bilder ihres Premiers auf Stadtrundfahrten und am Strand von Barbados. Als Callaghan am 10. Januar wieder in Heathrow landete, wartete bereits eine Meute von verärgerten Journalisten auf ihn. Seine Abwesenheit während der Krise in der Heimat wurde skeptisch hinterfragt und man verurteilte sein Vorgehen angesichts des in Großbritannien herrschenden Chaos. Callaghan’s ungeschickte Antwort auf diese Sichtweise sollte später in die Geschichte eingehen:

“I don't think other people in the world would share the view [that] there is mounting chaos[in Britain]”

Damit hatte der Premierminister sein Ansehen im Land einmal mehr zum Wanken gebracht. Crisis? What Crisis?höhnte die Tageszeitung The Sun am nächsten Tag und warf Callaghan – wie viele andere – vor, den Kontakt zu der Bevölkerung verloren zu haben.

Spätestens von diesem Moment an ging es steil bergab für Callaghan und die Labour Partei. Die Nerven des Landes lagen blank und sowohl die Streikenden als auch die Regierung standen im Beschuss der Öffentlichkeit. Doch während Callaghan nun alle Karten verspielt hatte, holten die Gewerkschaften – die zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnten, dass ihre Tage gezählt waren – zu einem letzten Schlag aus: Der „Day of Action“– ein Generalstreik von 1,5 Mio. Angestellten am 22. Januar 1979. 

Februar/März 1979: Ende ohne Sieger (außer Madam Thatcher)

Tatsächlich trug der Arbeitskampf nach Wochen der gewerkschaftlichen Aktionen langsam Früchte. Zuerst knickte die Industrie ein und gab den Forderungen der Arbeiter weitestgehend nach, dann folgte - mit knirschenden Zähnen - der Öffentliche Dienst. Am 14. Februar 1979 wurde schließlich eine Vereinbarung – das „Valentine’s Concordat“ - zwischen der Labour-Regierung und dem Gewerkschaftsrat geschlossen und der Konflikt offiziell beendet. Über 25 Mio. Arbeitstage waren zu diesem Zeitpunkt bestreikt worden, doch obwohl das Aktions-Ende mit dem Abkommen vom 14. Februar besiegelt war gingen etliche Arbeiter noch mehrere Wochen lang weiter auf die Straße. „Kontrollverlust“ lautete der Vorwurf gegen Gewerkschaftler und Regierung – ein Vorwurf, der einer Dame, die zu diesem Zeitpunkt schon lange auf der Lauer gelegen und ihre Messer gewetzt hatte – gerade recht kam. Ihr Name war Margaret Thatcher, ihre Mission war der Kampf gegen Gewerkschaften und staatliche Interventionen.

 

1,5 Monate später war Thatchers großer Moment gekommen. Nach zwei verlorenen Nachwahlen und einem verlorenen Misstrauensantrag gegen Callaghan war die Labour-Regierung abgewählt worden. Margaret Thatcher – die knallharte Gewerkschaftsgegnerin und eingefleischte Kapitalistin - wurde als erste Frau zur Premierministerin des Vereinigten Königreichs gewählt und hielt in dieser Rolle am 28. März 1979 Einzug in das britische Parlament.