Das Vereinigte Königreich und die EU - Ein Jahrhundertreferendum mit Geschichte

22.06.2016 22:27

    Punkt sieben werden am morgigen Tag die Wahlbüros im Vereinigten Königreich ihre Türen öffnen und die Stimmzettel einer gespaltenen Gesellschaft entgegennehmen. Brexit – ja oder nein? „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“ – lautet die Frage, die jeder Wahlberechtigte dann für sich beantworten muss.

    Seit Monaten schon spitzt sich die Situation auf den britischen Inseln zu. Ein Land im Ausnahmezustand. Auf den Kampagnenbussen – den sogenannten „battle busses“ - prangen Aufschriften wie „We send the EU £350 million a week – let’s fund our NHS instead. Vote Leave.“ oder „A Brighter Future IN. Britain Stronger in Europe“. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wie es spannender nicht sein könnte. Dabei wackeln die Prognosen ständig hin und her. Mal liegen die Befürworter des EU-Ausstiegs um einige Prozentpunkte vorn, dann wieder die EU-Treuen. Mal gibt es 1% Unentschiedene, dann wieder 9%. Und ganz manchmal wechselt sogar ein kleines Zugpferd das Lager, wie vor zwei Tagen erst die konservative Politikerin Baroness Warsi. Warsi hatte bis dahin für den Austritt aus der EU geworben, änderte dann aber aufgrund von Hass und Fremdenfeindlichkeit, die sie innerhalb der Leave-Kampagne sah, ihre Meinung. Was folgte waren Zorn und Bewunderung zugleich.

    Das britische EU Referendum ist zu einem unerbittlichen Kampf geworden, der das Land spaltet, wie kaum ein Ereignis zuvor. Für den Augenblick scheint es nur noch „Leave“ oder „Remain“ zu geben und die Menschen sind entweder emotional aufgeladen oder völlig ratlos. Die einen haben sich ihre Meinung schon vor langer Zeit gebildet und zetern und wettern gegen die anderen, und die ganz anderen wollen sich noch einmal schnell schlau machen, bevor sie am Donnerstag ihr Kreuzchen setzen. Dabei geht dem morgigen Tag schon eine lange Geschichte voraus – eine Geschichte mit harten Kämpfen um die Zugehörigkeit zur Union, mit Zwist und Streitigkeiten, Hin und Her und eisernen Verhandlungen um Kostenrückerstattungen.

    Aber wer erinnert sich heute noch daran, dass dieses bereits das zweite Referendum ist, in dem die Briten über den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft abstimmen...

Die Briten und Europa – eine Geschichte für sich

    „Let Europe arise“, waren die Worte Winston Churchill’s, als er kurz nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Welt heraufbeschwor: Eine Welt, in der es nicht um Kriege und Machtkämpfe ging, sondern um ein geschwisterliches Miteinander. Um den gemeinsamen Weg in einen dauerhaften Frieden und den Aufbau einer Europäischen Familie. “We must build a kind of United States of Europe.”, hieß es dazu in seiner legendären Europa-Rede an der Universität Zürich am 19. September 1946.

Und so war es doch tatsächlich ein Brite, der jenen europäischen Gedanken erstmals laut aussprach und voller Inbrunst nach vorne brachte. Mit der Gründung des Europarats im Jahre 1949 war der erste große Schritt getan und das Vereinigte Königreich ganz vorn dabei.

    Dann jedoch kam alles anders. Schon als zwei Jahre später die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – ein Vorreiter der Europäischen Union - ins Leben gerufen wurde, waren die Briten raus aus dem Gemeinschaftsprojekt und auch an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 1959 aus der Gemeinschaft für Kohle und Stahl hervorging, konnte das Land keinen Gefallen finden. Statt mitzuwirken hielt es sich dezent im Hintergrund und erst als die Erfolge jener Zusammenarbeit deutlich wurden, entschied sich das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland dazu 1961 doch einen Beitrittsantrag zu stellen.

    Dabei hatten sie die Rechnung allerdings ohne Frankreich gemacht. Während Deutschland, Italien und die Beneluxländer einem britischen Beitritt nichts Wesentliches entgegenzusetzen hatten, sah Frankreich, bzw. Präsident Charles de Gaulle die Sache ganz anders. Den Briten sei noch immer eine tief innewohnende Feindseligkeit gegenüber der europäischen Organisation zu eigen, meinte er ... und machte von seinem Vetorecht Gebrauch. UK blieb draußen und de Gaulle bei seiner Meinung. Sieben Jahre später wiederholte sich das Spiel. Das Königreich stellte einen zweiten Beitrittsantrag an die EWG und wurde erneut abgelehnt. Erst als de Gaulle von seinem Amt zurücktreten musste war der Weg für die Briten frei. Sie stellten einen dritten Beitrittsantrag und wurden 1973 endlich in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen.

    Nun hätte eigentlich alles so schön vereint sein können – doch die kritischen Stimmen, die es in Großbritannien bereits vor dem Beitritt gegeben hatte, wurden immer lauter: So laut, dass die Labour Partei zu guter Letzt eine Volksabstimmung zur britischen EG Mitgliedschaft versprach, sollte sie bei den nächsten Wahlen als Siegerpartei hervorgehen. Als ihr Vorsitzender Harold Wilson das Land 1974 tatsächlich mit einer Minderheitenregierung übernahm war es bald soweit: das erste nationale Referendum der britischen Geschichte konnte am 5. Juni 1975 durchgeführt werden.

    Dem europäischen Gedanken zum Glück entschieden sich 67,2% der Wahlbeteiligten für den Verbleib in der Gemeinschaft und die Euroskeptiker mussten sich vorerst geschlagen geben. Leiser und weniger wurden sie jedoch nicht. Auch die anfangs pro-europäisch gestimmte Margaret Thatcher, die seit 1974 den Parteivorsitz der Conservative Party innehatte, wandte sich zunehmend gegen die supranationale Organisation. 1984 erhandelte sie unter großem Beifall den sogenannten Britenrabatt: eine Teil-Rückerstattung des Mitgliedsbeitrags, der dem Königreich eingeräumt wurde, weil es weniger landwirtschaftliche Fördergelder in Anspruch nahm als die meisten anderen Mitgliedsländer. Der „Britenrabatt“ – in Großbritannien „rebate“ (Rückzahlung) genannt - blieb bis heute bestehen.

Das 21. Jahrhundert – die Euroskepsis steigt

    Doch „Britenrabatt“ hin oder her - die euroskeptischen Stimmen stiegen auch während der folgenden Jahrzehnte weiter an und organisierten sich zunehmend gegen die Europäische Union. Als schließlich die EU Osterweiterung im Jahre 2004 zu einem starken Zuzug von osteuropäischen Einwanderern in das Vereinigte Königreich führte, war für einige das Fass zum Überlaufen gebracht. Noch im letzten Jahr sagte Jack Straw, britischer Außenminister jener Zeit, es sei ein „spektakulärer Fehler“ gewesen, damals jenen unbegrenzten Zuzug aus Ländern „wie Polen“ ermöglicht zu haben. Zu allem Überfluss folgte wenig später noch die Rezession von 2008 / 2009, die zu steigenden Arbeitslosenzahlen und einem selten dagewesenen und bis heute anhaltenden Sparkurs führte. Gleichzeitig verstärkte sich das Gefühl, Europa wolle die Briten völlig fremdbestimmen und ihnen ungewollte Gesetze auferlegen.

    An den Wochenenden tauchten immer mehr Stände der rechtspopulistischen und anti-europäischen UK Independence Party (UKIP) in den Innenstädten auf, die mit aggressiven Stammtischparolen die Wähler auf ihre Seite zu ziehen versuchte. Und das nicht ohne Erfolg. Vor allem bei den Wahlen zum Europaparlament im Jahre 2014 erhielt UKIP 24 der 73 britischen Sitze in Brüssel. Kein Wunder also, dass den alteingesessenen Parteien das Lachen im Halse stecken blieb. Vor allem die konservative Partei sah sich von dem wachsenden Zuspruch für UKIP extrem bedroht und suchte nach einer Lösung, um die Abwanderung ihrer Wähler aufzuhalten. Und so war es schließlich David Cameron, der das Referendum zur britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union 2015 als Wahlversprechen in das Manifesto seiner Partei aufnahm. Sollte die Conservative Party gewinnen, so hieß es, würde vor 2017 ein Volksentscheid durchgeführt und die europäische Frage ein für alle Mal geklärt werden.

    Cameron’s Strategien zeigten Erfolg. Er gewann die Wahlen, wurde zum zweiten Mal Premierminister des Vereinigten Königreiches und trat bald darauf in die Verhandlungen mit dem Europäischen Rat ein. Seine Hauptziele waren die Beschränkung von Steuervergünstigungen und Sozialleistungen für europäische Migranten und die Garantie dass sein Land, in dem noch immer mit Pfund statt mit Euro bezahlt wird, nicht für die finanzielle Rettung von Ländern der Euro-Zone zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dazu kam die Forderung nach weiteren, wirtschaftlichen Förderungen des EU-Binnenmarktes bei einer gleichzeitigen Reduzierung des Verwaltungsapparates sowie die Stärkung nationaler Parlamente.

    In vielen Punkten konnte sich Cameron durchsetzen und das Angebot zu einem Sonderstatus des Vereinigten Königreiches von Seiten der EU mit nach Hause nehmen. Sollte das britische Volk sich heute für den Verbleib in der EU entscheiden, so würden Neu-Einwanderer in den ersten vier Jahren keine Steuervergünstigungen mehr beantragen dürfen, UK wäre von der finanziellen Verantwortung für bankrotte Euro-Länder ausgeschlossen und ein „Rote-Karte“-System würde zukünftig den Einspruch gegen EU-Gesetze ermöglichen, wenn sich mindestens 55% der Mitgliedsstaaten zusammentäten. Trotzdem könnte an Einwanderer ausgezahltes Kindergeld anders als gefordert weiterhin ins Ausland überwiesen werden und es wird keine Ausnahmeregelung für das Sozial- und Arbeitsrecht geben.

    Wie nicht anders zu erwarten erklärten Vertreter und Vertreterinnen der „Remain“ Kampagne die Ergebnisse für einen vollen Erfolg während Austritts-Befürworter die Zusagen als belangloses Geplänkel bezeichneten. Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London und in weiten Kreisen beliebtes Großmaul der konservativen Partei, twitterte nach Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse umgehend seine Unterstützung der Leave-Kampagne und begann einen Klein-Jungen-Streit mit Premierminister David Cameron. Seitdem (wenn nicht schon früher), arbeiten beide Seiten mit Drohgebärden und Stammtischparolen, schüren Ängste und versuchen nicht vorhandene Fakten zu vertuschen. So ist es kein Wunder, dass mal die eine, dann wieder die andere Seite in Meinungsumfragen vorne liegt während sensible Seelen schlaflose Nächte mit der Suche nach der richtigen Antwort verbringen.

„Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“

    Freitag morgen werden wir mehr über den Ausgang dieses Jahrhundert-Referendums wissen – wie die Geschichte jedoch weitergehen wird, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen.

 

Kerstin Dopatka