Cheshire - das Tor zum Nordwesten

16.06.2014 12:11

Vielen Engländern ist Cheshire nur von der Durchfahrt bekannt. Weiter nach Manchester und Liverpool oder auf dem Weg zum Urlaub in Nordwales, streifen sie eine kaum bekannte Landschaft in der der Nordwesten Englands beginnt.

Vielleicht muß man genauer hingucken um den Charme dieser Region „zwischen den Welten“ – zwischen den Großstädten im Norden, dem dünn besiedelten Shropshire im Süden, der Wildnis von Wales im Westen und dem Peak District im Osten zu begreifen. Vielleicht muß man dabei gewesen sein, wenn die Menschen sich bei Regenwurmlockwettbewerben und Feigenkuchenweitrollen vergnügen und anschließend mit Kind und Kegel im Pub verschwinden, um warmes Bier zu trinken und Backfisch mit Matscherbsen zu essen. Vielleicht muß man Cheshire selbst erlebt haben, um zu verstehen, was es mit der alten Grafschaft und Heimat der Grinsekatze, die in England „Cheshire Cat“ genannt wird, wirklich auf sich hat.

Cheshires Geschichte

Cheshires Geschichte kann bis in die Steinzeit zurück verfolgt werden. Letzte Spuren finden sich nahe dem im Osten gelegenen Dörfchen Timbersbrook, wo prähistorische Siedler um 4000 v. Chr. die „Bridestones“, eine Begräbnisstätte für ihre Verstorbenen, errichtet hatten. (1) Beinahe vier Jahrtausende später begannen die Kelten mit dem Handel von Salz, das aus Minen um die heutigen Städte Middlewich und Northwich stammte. Sie eröffneten damit einen Wirtschaftszweig, der ab dem 1. Jahrhundert von den Römern aufgegriffen wurde und bis heute eines der wichtigsten Standbeine der Region geblieben ist. (2)

Als die Römer in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts in das Gebiet des heutigen Cheshire kamen hatten sie große Pläne: „Deva Victrix“, ihr neues Lager an dem Fluß Dee, sollte eines der wichtigsten Zentren ihrer Provinz Britannia werden und als Ausgangspunkt für die Eroberung von Wales und Irland dienen. Die dort ansässigen keltischen Stämme jedoch vereitelten diese Pläne und wiesen die Römer hinter ihre Grenzen zurück. (3) Nach ihrem Abzug von den Britischen Inseln im 5. Jahrhundert hinterliessen die Römer eine gut ausgebaute Festung, die von römischen Veteranen und später angel-sächsischen und normannischen Eroberern übernommen wurde und sich langsam zu der Stadt entwicklelte, die uns heute als Chester bekannt ist.

Chester – städtischer Charme zwischen früher und heute

Geschichte lauert in allen Winkeln dieser Stadt, deren buntes Treiben zwischen Innenstadt und Flußpromenade eine einzigartige Atmosphäre erschaffen hat. Mittelalterliche Stadmauern, schwarz-weiße Fachwerkhäuser und die berühmten „Rows“ -historische Einkfausarkaden auf zwei Etagen - bestimmen das ungewöhnliche Stadtbild. An Sommerwochenden pilgern aufgebrezelte Menschenmassen zum Roodee, der ältesten Pferderennbahn Englands, während Touristen es sich bei einer Bootsfahrt auf dem River Dee gut gehen lassen. Stadtfeste und eine Vielzahl an kulturellen Ereignissen für Groß und Klein stehen das ganze Jahr auf dem Programm, das an sommerlichen Tagen von Stadtschreiern am „High Cross“ in der Mitte Chesters verkündet wird.

Raus auf’s Land

Im Süden und Osten von Chester bestimmen verträumte Dörfer und Marktstädte, englische Gärten und Herrenhäuser (zum Beispiel Cholmondley Castle, Arley Hall, Lyme Park), verzweigte Kanalsysteme und Burgen (Beeston Castle, Peckforton, Halton Castle) sowie Kühe und Bauernhöfe die Landschaft. Den Hügeln zwischen Peckforton und Delamere (Mid Cheshire Ridge) schließt sich eine weitläufige Tiefebene an, die weiter im Osten durch den ansteigenenden Peak District begrenzt wird.

Der ausgeprägten Milchwirtschaft ist es zu verdanken, daß sich in Cheshire eine ungewöhnliche Branche etablieren konnte: die Ice Cream Farms – Bauernhöfe mit eigener Eisproduktion, die Besucher von weither anlocken. Namen wie Snugbury’s oder Cheshire Farm Ice Cream sind dabei weit über ihre Grenzen hinaus bekannt.

Die meisten dieser Attraktionen sind nur über schmale, einspurige Landstraßen zu erreichen. Für viele Autofahrer ein wahrer Graus, da die einheimische Bevölkerung nicht davor zurück schreckt mit 60 Meilen pro Stunde (fast 100 Stundenkilometer) um unüberschaubare Biegungen und Heckenzüge zu düsen. Eine wesentlich gemütlichere und für Cheshire sehr charakteristische Art der Fortbewegung bietet da das sanfte Schippern auf dem weit verzweigten Kanalnetz. Insgesamt sechs dieser schmalen Wasserwege, die im 19. Jahrhundert zum Transport von landwirtschaftlichen Produkten in die Großstädte gebaut wurden, sind befahrbar und werden heute in erster Linie für Bootsurlaube und Tagesfahrten genutzt. Viele der schönsten Ortschaften Cheshires können auf diese Weise mit den typischen Narrowboats angefahren werden. Der Verleih erfolgt an mehreren Marinas in ganz Cheshire.

Cheshires Dörfer und Städte

Romantische Dörfer, traditionelle Marktstädte und Industriestädte: Cheshire hat ein bißchen von allem. Dörfer wie Audlem, Great Budworth, Prestbury oder Tarporley verführen mit alten, verwinkelten Häuschen, urigen Teashops, gemütlichen Gasthäusern und traditionellen Festen. Fans englischer Folk Music sollten Pubs wie den Shroppie Fly in Audlem oder den Fox and Barrel in Tarporley besuchen, wo regelmäßig offene Folk Abende veranstaltet werden. Beim alljährlichen Feigenkuchenweitrollen (Fig Pie Wake) in Wybunbury treten Hobbybäcker gegeneinander an, um die besten Feigenkuchenweiteroller zu ermitteln. Im Juni geht es dann zum Regenwurmlockwettbewerb (Worm Charming Championship) nach Willaston, wo jeder Teilnehmer in 30 Minuten mit Tanzen, Singen, Hüpfen und Stampfen so viele Würmer wie möglich aus dem Boden zu locken versucht. Die Zuschauer vergnügen sich derweil mit einem Picknick am Rande des Spektakels und feuern die eifrigen Wurmlocker an.

Der ländliche Charakter Cheshires, der vor allem den Süden der Grafschaft bestimmt, spiegelt sich in vielen dieser eigentümlichen Traditionen aber auch in den liebevoll behüteten Marktstädten wieder. Kleine Juwelen wie Nantwich mit seinen schiefen Tudor-Fachwerkhäusern und Cafés sind stolz auf ihre malerischen Straßen. Weiter hoch im Norden finden sich exklusive Boutiquen, Kunstgallerien und erlesene Feinschmeckerrestaurants in dem eleganten Städtchen Knutsford. Traditionelle Farmer’s Markets werden in Orten wie Frodsham, Kelsall, Malpas und Belgrave ausgerichtet.

Im Gegensatz zu dem ländlichen Süden Cheshires ist der nördliche Teil vor allem durch Industriestädte längs des Flusses Mersey geprägt. Durch ihre Flußlage und die direkte Nachbarschaft zu Liverpool und Manchester entwickelten sich die Städte Ellesmere Port, Runcorn und Warrington zu Ausläufern der umliegenden Metropolen und wurden vor allem durch die Chemie- und Schwerindustrie zu wichtigen Wirtschaftsstandorten.

Auf Wiedersehen in Cheshire

Ob Stadt oder Land, Reiterurlaub oder Bootstouren, Tea Time oder Fish & Chips - für Abwechslung ist gesorgt. Wer abseits des Massentourismus neue Pfade entdecken möchte, der ist in Cheshire gut aufgehoben.

 

  1. Vgl. Alan Crosby: A history of Cheshire, Phillimore & Co. LTD., Chichester 1996, S. 17
  2. Vgl. A.D.M. Phillips and C.B. Phillips: A New Historical Atlas of Cheshire, Cheshire County Council and Cheshire Community Council Publications Trust, Chester 2002, S. 18
  3. Vgl. N.J. Higham: The origins of Cheshire, Manchester University Press, Manchester 1993, S. 33